Neuseeland Kultur

Lebensqualität in Neuseeland: Der Versuch den neuseeländischen Lifestyle zu beschreiben

Zahlen & Fakten

Jemand der noch nie in Neuseeland war hat meist folgendes über das Land gehört: Tolle Landschaft, sehr nette Menschen, es ist verhältnismäßig sicher und friedlich, man spricht Englisch, der Lebensstandard ist mir dem deutschen vergleichbar und es ist weit, weit weg. Hört sich doch nach dem perfekten Land zum Auswandern an!

Markus und ich haben hier wirklich unser Plätzchen auf der Welt gefunden und möchten nie mehr weg hier. Trotzdem muss ich jedem der hierher auswandern will unbedingt einen Orientierungstripp nach Neuseeland empfehlen. Schaut Euch das Land erstmal an! Neuseeland ist nicht Europa und auch wenn vieles auf den ersten Blick vertraut scheint, ticken die Kiwis doch echt ganz anders. Nicht jeder Deutsche oder Europäer wird sich hier wohl fühlen.

Neuseeländer sind weniger produktiv, aber sie haben mehr vom Leben

Vor ein paar Wochen bekam ich eine Email von einem deutschen Blogleser mit einem Themenvorschlag: Ihm war auf seiner Neuseeland-Reise aufgefallen, dass es in neuseeländischen Badezimmern noch sehr oft Waschbecken ohne Mischbatterie gibt. An den meist sehr kleinen Waschbecken gibt es links und rechts einen Wasserhahn aus dem jeweils nur sehr kaltes und sehr heißes Wasser kommt. Das ist relativ unpraktisch, denn die Wasserhähne sind auch noch so klein und nah am Rand, dass man sich kaum darunter die Hände waschen kann. Außerdem muss man einen Wasserhahn wählen, hat also die Auswahl zwischen kaltem Wasser und “sich die Hände verbrühen”. Er fand diese doch sehr weit verbreiteten Waschbecken irgendwie witzig und fragte mich ob “es eventuell eine Bad-Armaturenmafia gäbe, die es dem geneigten Neuseeländer verbiete auf eventuell praktischere Fabrikate aus Übersee ausweichen” und stellte sich die berechtigte Frage warum “der technologische Fortschritt eher schleppend in Neuseeland Einzug hält”. Auf jeden Fall gut beobachtet! Ich lebe wohl schon zu lange hier – mir fallen diese Waschbecken gar nicht mehr auf. Ich glaube sie sind einfach nur sehr alt und in Deutschland gab es sie bestimmt früher auch mal – nur dort wurden mittlerweile alle gegen Mischbatterien ausgewechselt.

Waschbecken mit 2 Wasserhähnen

Aber was hat das mit dem neuseeländischen Lifestyle zu tun?

Sehr viel sogar (Jetzt muss ich wieder tief aus dem Pauschal-Klischee-Topf schöpfen)!
Die deutsche Mentalität ist geprägt von Fortschrittsdenken: Höher, weiter, schneller, mehr. Wir Deutschen wollen optimieren, verbessern und  perfektionieren. Arbeitsabläufe müssen reibungslos sein und fällt jemand aus dem Rahmen versuchen die anderen ihn wieder auf Linie zu bringen. Ist ein Gerät alt und uneffizient wird es es gerne gegen das bessere, neue ausgetauscht damit alles optimal funktioniert.

Der Neuseeländer will nicht alles optimieren

In Neuseeland hat man einen sehr viel gelasseneren Blick auf viele Dinge. Das Waschbecken ist unpraktisch und nicht auf dem neusesten Stand? Na und? Man kann sich damit doch ganz gut waschen – also erfüllt es doch seinen Zweck. Es ist ja nicht kaputt: Warum also austauschen? Das kostet nur Geld, das der gemeine Kiwi lieber für andere Dinge wie Urlaub, eine neue Angel oder das neue Jetski ausgibt.
Andere Frage: Warum haben neuseeländische Häuser keine Zentralheizung? Nunja, es ist ja vielerorts nur ca 3 bis 4 Monate pro Jahr richtig kalt – warum deshalb extra eine Heizung einbauen…? Die kurze Zeit kann man sich ja einen Pullover mehr anziehen und sich im Wohnzimmer vor den Holzofen setzen. Warum unsinnig viel Geld für eine Zentralheizung ausgeben? So denkt der Kiwi.
In meiner Firma arbeiten Leute die sich über die Jahre hochgearbeitet haben und an die 100.000 $/Jahr verdienen. Trotzdem fahren sie immernoch ihren 1996er Nissan Sunny oder einen alten Toyota. “Das Auto fährt doch noch prima” würden man zu hören kriegen wenn man sie drauf anspräche.
Freunde von uns sind mal zufällig mit einem etwas “abgerissenen Typen” ins Gespräch gekommen (schlampige, alte Klamotten und für deutsche Begriffe ungepflegtes Erscheinungsbild). Nach kurzem Gesprächt stellte sich heraus, dass der gute Mann Besitzer eines großen Weinguts und millionenschwer ist. Statussymbole und Geld sind hier irgendwie unwichtig. Wer Geld hat lässt es nicht raushängen und der Anwalt und der Müllmann sind beste Freunde.

Das Auto einer IT Führungskraft meiner Firma mit einem Kleiderbügel als Antenne

Es nehmen sich zB auch viele Familienväter in den Sommerferien unbezahlten Urlaub um Zeit mit der Familie zu verbringen. Geld ist nicht so wichtig. Als ich hier in Neuseeland einen Job ergattern konnte der wirklich gut bezahlt ist hab ich mich entschieden nur noch 4 Tage pro Woche zu arbeiten. Mehr Freizeit anstatt Geld – das ist mir mehr wert.
Oder anderes Beispiel: Für unsere Renovierung hier in Gisborne haben wir uns lange umgehört nach guten Handwerkern. Eine Bekannte von uns hat einen Sohn, der Klempner ist und sie hat ihn uns empfohlen: “Ja er macht einen echt guten Job, aber jetzt im Sommer werdet Ihr kein Glück bei ihm haben. Er arbeitet nur im Winter… jetzt im Sommer ist er zu beschäftigt mit Motocross und Surfen…”

Die relaxte Lebenseinstellung der Neuseeländer kann auch echt nerven

Das hört sich jetzt ganz nett und sympatisch an, aber dieses Lebensgefühl kann auch echt nerven. zB Wenn man wirklich dringend einen Handwerker braucht und der nicht auftaucht weil “die Wellen heute gut waren” oder wenn in der Firma nichts vorran geht weil die Kollegen wieder mal nur rumbummeln. Wer auf Biegen und Brechen deutschen Standard erwartet, den Besserwisser raushängen lässt und Klartext redet wird hier gegen Wände laufen. So ticken die Kiwis einfach nicht.

Wer die Kiwis belächelt weil der “Standard” hier so viel schlechter ist als in Deutschland, der hat einfach nicht verstanden worum es hier eigentlich geht… Ein bequemes Leben mit viel Freizeitspaß ist hier für die meisten oberstes Ziel. Wer sich und sein Umfeld optimieren, verbessern und perfektionieren will ist in Deutschland irgendwie besser aufgehoben.

Ohne jetzt hier literarisch zu werden: Es gibt von Heinrich Böll die Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral. Die Geschichte passt ganz gut zum Thema: Ein reicher Tourist trifft auf einen Fischer der faul am Strand liegt und ihn fragt warum er nicht MEHR arbeitet um sich zu verbessern (mehr Fang = mehr Geld =ein neues Boot = mehr Profit etc) . Der Fischer liegt aber lieber am Strand und sonnt sich und versteht nicht warum er mehr arbeiten soll als unbedingt notwendig. Na, wenn er sich mehr Boote und dann auch Angestellte leisten könnte, sagt der Tourist, dann müsse er nichts mehr tun und könnte dann am Strand in der Sonne liegen. “Aber das mache ich doch jetzt schon” sagt der Fischer… oder so ähnlich…

 

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